Kindheit und Asphalt

Als ich ein kleines Mädchen war, da spielten wir auf der asphaltierten Fläche von Hof und Straße. Wir hatten Malkreide und wir malten uns Häuser, Straßen und Zebrastreifen. Wir malten uns Gärten, wir malten Mauern und Zäune. Wir malten uns Küche, Wohn- und Esszimmer. Wir malten uns Tische, Stühle, Schränke und Betten. Schon bald wurde deutlich, dass die Häuser und Gärten immer größer werden sollten. Die zu Anfang gemalten kleinen Häuschen und Nischen reichten nicht mehr aus, sie sollten im Blick auf die Häuser und Gärten der Schwestern größer, schöner, großzügiger und kompletter werden. Es brauchte einen Autounterstellplatz, vielleicht ein Schwimmbad, eine Sauna. Schon bald fingen Streitereien an, wer an welcher Stelle des Hofes und des Vorplatzes wo und wieviel Platz für sich und sein Haus und Garten beanspruchen durfte. Auch war ich mit meinem großen, zuletzt gezeichneten Haus niemals zufrieden. Es sollte größer und schöner werden, mehr und mehr und mehr, niemals war ich fertig.

Die Erlösung brachte letztlich der Regen. Als wir nach dem Regen aus dem Haus unserer Eltern kamen, waren die Teilungen und Einteilungen, die Häuser, Gärten und alles ihr Innenleben weg. Der Regen hatte sie einfach ausgewaschen. Und der Asphalt zeigte sich gelassen, sauber, ruhig, unbeschrieben, als eine ganze, frische, graue Fläche. Wir waren erleichtert. Die Fläche war leer. Man hätte jetzt jederzeit wieder mit der Kreide zu zeichnen anfangen können. Doch das eine Mal hatte uns gezeigt, letztlich macht dieses Spiel einfach keinen Spaß, führt zu nichts und verdirbt die gute Laune.

Sue Bringer, Wien 13.10.2011